BNC Erklärung

Eine Kritik der palästinensischen Zivilgesellschaft an der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus.

25. März 2021 /Palestinian BDS National Committee  / Europe, European Union, North Americ

Die “Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus” (JDA) stellt trotz ihrer unten aufgeführten Mängel eine Alternative zur irreführenden sogenannten IHRA-Definition von Antisemitismus und “stichhaltige Leitlinien” im Kampf gegen den wirklichen Antisemitismus dar, wie ihn viele fortschrittliche jüdische Gruppen definieren – die Verteidigung von Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden vor Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit und Gewalt. Sie respektiert weitgehend das Recht auf freie Meinungsäußerung im Zusammenhang mit dem Kampf für die Rechte der Palästinenser*innen, wie sie im internationalen Recht festgelegt sind, auch durch BDS, und den Kampf gegen Zionismus und Israels Regime der Besatzung, des Siedlerkolonialismus und der Apartheid.

Die JDA kann im Kampf gegen den antipalästinensischen McCarthyismus und die Repression, die die Befürworter*innen der IHRA-Definition mit ihren “Beispielen” gefördert und herbeigeführt haben, hilfreich sein. Dies ist auf die folgenden Vorteile des JDA zurückzuführen:

  • Trotz ihrer problematischen israelzentrierten Leitlinien bietet sie eine kohärente und genaue Definition von Antisemitismus. Ihre Autor*innen lehnen es explizit ab, sie rechtlich zu kodifizieren oder dazu zu nutzen, um die legitime Ausübung der Freiheit von Forschung und Lehre zu beschränken oder ” um freie und offene Debatten innerhalb der durch die Gesetze zur Hasskriminalität vorgegebenen Grenzen zu unterdrücken.” Dies ist hilfreich, um den Versuchen der IHRA-Definition entgegenzuwirken, Israel vor der Rechenschaftspflicht gegenüber internationalem Recht abzuschirmen und den Zionismus vor rationaler und ethischer Kritik zu schützen.
  • Sie erkennt Antisemitismus als eine Form des Rassismus an, mit seiner eigenen Geschichte und seinen Besonderheiten und widerlegt damit weitgehend den Exzeptionalismus, den die IHRA-Definition (mit ihren Beispielen) ihm verleiht.
  • Sie anerkennt, dass Antisemitismus und Antizionismus sich “grundsätzlich unterscheiden”, und betrachtet das Eintreten für die palästinensischen Rechte wie sie im Völkerrecht verankert sind und für die Beendigung des israelischen Unterdrückungsregimes nicht per se als antisemitisch. Sie widerlegt damit die gefährlichsten und als Waffe benutzten Elemente der “Beispiele” der IHRA-Definition. Ausdrücklich erkennt die JDA die folgenden Beispiele als legitime freie Meinungsäußerung an: die Unterstützung der gewaltfreien BDS-Bewegung und ihrer Vorgehensweise; die Kritik an oder der Widerstand gegen den Zionismus; die Verurteilung von Israels Siedlerkolonialismus oder Apartheid; die Forderung nach gleichen Rechten und Demokratie für alle durch die Beendigung aller Formen von Vorherrschaft und “systematischer rassistischer Diskriminierung”; und die Kritik an Israels Gründungsprinzipien und an seinen rassistischen Institutionen oder seiner Politik.
  • In der Erklärung heißt es, dass es antisemitisch ist, ” Jüd:innen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen oder sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agent:innen Israels zu behandeln “, ein Grundsatz, dem wir voll zustimmen. Wir rufen dazu auf, diesen Grundsatz durchgängig anzuwenden, auch wenn Israel und Zionist*innen, ob jüdisch oder christlich-fundamentalistisch, sich der Verletzung dieses Grundsatzes schuldig machen. Fanatische zionistische und israelische Führer*innen, wie z.B. Netanjahu, sprechen oft im Namen aller Jüdinnen und Juden und ermutigen jüdische Gemeinden in den USA, Großbritannien, Frankreich und anderswo, nach Israel „heimzukehren“.
  • Theoretisch wird anerkannt, dass der Kontext insofern eine Rolle spielt, als dass bestimmte Situationen Einfluss darauf haben, ob eine bestimmte Äußerung oder Handlung als antisemitisch angesehen werden kann oder nicht.

Dennoch sind Palästinenser*innen, die Palästina-Solidaritätsbewegung und alle progressiven Menschen dazu angehalten, sich der JDA  kritisch und mit Vorsicht zu nähern, da sie einige inhärente Mängel aufweist:

    1. Mit ihrem unglücklichen Titel und den meisten seiner Leitlinien konzentriert sich die JDA auf Palästina/Israel und den Zionismus, was ungerechtfertigterweise die Versuche bestärkt, antijüdischen Rassismus mit dem Kampf für die palästinensische Befreiung zu verbinden und somit unseren Kampf beeinträchtigt. Trotz dieser Auswirkung schließt die JDA repräsentative palästinensische Perspektiven aus, eine Auslassung, die ziemlich viel über asymmetrische Macht- und Herrschaftsverhältnisse aussagt und darüber, wie einige Liberale immer noch versuchen, Entscheidungen, die uns zutiefst betreffen, ohne uns zu fällen. Palästinenser*innen können nicht zulassen, dass irgendeine Definition von Antisemitismus verwendet wird, um das Eintreten für unsere unveräußerlichen Rechte oder die Schilderung unserer gelebten Erfahrungen und unserer evidenzbasierten Geschichte des Kampfes gegen Siedlerkolonialismus und Apartheid zu kontrollieren oder zu zensieren.
    2. Die schlecht durchdachte Auslassung jeglicher Erwähnung der weißen Vorherrschaft und der extremen Rechten, den Hauptschuldigen hinter antisemitischen Angriffen, lässt die extreme Rechte unbeabsichtigt vom Haken, trotz einer beiläufigen Erwähnung in den FAQ. Die meisten rechtsextremen Gruppen, besonders in Europa und Nordamerika, sind zutiefst antisemitisch, lieben aber Israel und sein Unterdrückungsregime.
    3. Trotz der Zusicherung der Meinungsfreiheit in ihren FAQ wird in den “Leitlinien” der JDA immer noch versucht, einige kritische Äußerungen über Israels Politik und Praktiken zu kontrollieren, wobei sie die notwendige Unterscheidung zwischen Feindseligkeit oder Vorurteilen gegenüber Jüdinnen und Juden auf der einen Seite und legitimer Opposition gegen israelische Politik, Ideologie und das Unrechtssystem auf der anderen Seite nicht vollständig aufrechterhalten. Zum Beispiel werden in der JDA folgende Fälle als antisemitisch betrachtet:

A.”Die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses” als eine möglicherweise “kodierte Ausdrucksweise, Jüd:innen zu rassifizieren und zu stigmatisieren.” Während in einigen Fällen eine solche Darstellung Israels oder eine grobe Übertreibung seines Einflusses indirekt eine antisemitische Gesinnung offenbaren kann, wäre in der absoluten Mehrheit der Fälle, die sich auf die Verteidigung palästinensischer Rechte beziehen, eine solche Schlussfolgerung völlig fehl am Platz. Wenn Palästinenser*innen, die aufgrund der israelischen Apartheidpolitik ihre Angehörigen, Häuser und Obstgärten verloren haben, Israel öffentlich als “das ultimative Böse” verurteilen, kann dies beispielsweise nicht vernünftigerweise als “kodierter” Angriff auf Jüdinnen und Juden ausgelegt werden.

Die Interpretation der Opposition gegen israelische Verbrechen und sein Unterdrückungsregime als antijüdisch, wie es Israel und seine antipalästinensischen rechten Unterstützer*innen oft tun, macht Israel effektiv zum Synonym oder setzt es gleich mit  “alle Jüdinnen und Juden”. Ethisch gesehen ist diese Gleichsetzung, abgesehen davon, dass sie antipalästinensisch ist, zutiefst problematisch, weil sie in der Tat alle jüdischen Personen essentialisiert und homogenisiert. Dies widerspricht der einleitenden Aussage des JDA, dass es “rassistisch ist, … eine bestimmte Bevölkerung zu essentialisieren.”

B. “Die Anwendung von Symbolen, Bildern und negativen Stereotypen des klassischen Antisemitismus … auf den Staat Israel.” Wie das die JDA selbst an anderer Stelle einräumt, ist eine solche pauschale Verallgemeinerung in allen “evidenzbasierten” Fällen falsch. Betrachtet man zum Beispiel Palästinenser*innen, die den israelischen Premierminister Netanjahu als “Kindermörder” verurteilen, angesichts von mindestens 526 palästinensischen Kindern, die bei Israels Massaker in Gaza 2014 abgeschlachtet wurden, was, so die kürzliche Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, untersucht werden soll. Kann dies als antisemitisch betrachtet werden? Sollten Palästinenser*innen es vermeiden, trotz handfester Beweise, diesen Begriff zu verwenden, nur weil er eine antisemitische Trope und Netanyahu zufällig Jude ist? Ist es islamfeindlich, den saudischen Diktator Muhammad Bin Salman – der zufällig Muslim ist – einen Schlächter zu nennen, der Berichten zufolge den grausamen Mord an Khashoggi inszeniert hat, ganz zu schweigen von den Verbrechen des saudischen Regimes gegen die Menschlichkeit im Jemen? Würde die Darstellung von MBS mit einem blutigen Dolch als islamfeindliche Darstellung gelten, wenn man bedenkt, dass islamfeindliche Karikaturen oft muslimische Männer mit blutgetränkten Schwertern und Dolchen darstellen? Eindeutig nicht. Warum also Israel als Ausnahme betrachten?

C.”Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.“ Das Prinzip des Gleichheitsgrundsatzes ist absolut vorrangig für den Schutz der individuellen Rechte in allen Bereichen sowie für den Schutz der kollektiven kulturellen, religiösen, sprachlichen und sozialen Rechte. Aber einige könnten dies missbrauchen, um gleiche politische Rechte für die Kolonisator*innen und die kolonisierten Kollektive in einer siedlerkolonialen Realität oder für die dominanten und die dominierten Kollektive in einer Apartheid-Realität zu implizieren und damit die Unterdrückung zu verewigen. Das im Völkerrecht verankerte Prinzip des Gleichheitsgrundsatzes soll und kann nicht dazu verwendet werden, Verbrechen zu entschuldigen oder Ungerechtigkeit zu legitimieren.

Was ist mit dem angeblichen “Recht” jüdisch-israelischer Siedler*innen, Palästinenser*innen vom ethnisch gesäuberten Land von Kafr Bir’im in Galiläa oder Umm al Hiran im Naqab/Negev zu verdrängen?  Was ist mit dem angeblichen “Recht”, rassistische Aufnahmekomitees in Dutzenden von rein jüdischen Siedlungen im heutigen Israel durchzusetzen, die palästinensischen Bürger*innen Israels die Aufnahme aus “kulturellen/sozialen” Gründen verweigern? Sollte darüber hinaus palästinensischen Flüchtlingen ihr von der UNO festgelegtes Recht auf Rückkehr in ihre Heimat verweigert werden, um ein angenommenes “kollektives jüdisches Recht” auf demographische Vorherrschaft nicht zu stören? Was ist mit Gerechtigkeit, Rückführung und Wiedergutmachung in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und wie können sie sich auf bestimmte angenommene “Rechte” von jüdisch-israelischen Besetzer*innen palästinensischer Häuser oder Ländereien auswirken?

Und am wichtigsten: Was hat das alles mit antijüdischem Rassismus zu tun?

Wie kürzlich im  Spiegel aufgedeckt, zeigt beispielsweise ein Polizeibericht in Deutschland, dass die Rechten und Rechtsextremen im Jahr 2020 für 96% aller antisemitischen Vorfälle in Deutschland, die auf ein klares Motiv zurückzuführen sind, verantwortlich waren.
https://twitter.com/bdsmovement/status/1362411616638275586