Kultureller Boykott

Freies Zusammenspiel oder doch nicht? Warum Carlos Santanas Gründe, den Boykott Israels zu ignorieren, bestenfalls dubios sind

Mehr als 400 Künstler beteiligen sich inzwischen an einem kulturellen Boykott gegen Israel. Warum also schließt sich der als Aktivist bekannte Gitarrist Carlos Santana nicht an?

Übersetzung des Artikels von David Palumbo-Liu  aus dem Online-Magazin Salon – To jam, or not to jam: Why Carlos Santana’s reasons for ignoring Israel boycott are dubious at best

Seit im Jahr 2006 der kulturelle Boykott Israels Bedeutung gewonnen hat, schließen sich immer mehr Künstler, Musiker und Schriftsteller der Kampagne an. Gleich nach dem ersten Aufruf, traten 94 internationale Künstler dem Boykott bei, angeführt von dem bekannten britischen Kritiker und Autoren John Berger.

Zu den Unterzeichnern zählen die Musiker und Songwriter Brian Eno und Leon Rosselson, die Filmemacher Sophie Fiennes, Elia Suleiman und Haim Bresheeth, die Dokumentarfilmerin Jenny Morgan, der Sänger Reem Kelani sowie die Schriftsteller Arundhati Roy, Ahdaf Soueif und Eduardo Galeano. In ihrem Appell forderten sie ihre Kollegen auf, Israel weder zu besuchen, noch dort auszustellen oder aufzutreten. Berger fügte dem Aufruf noch eine persönliche Anmerkung hinzu:

Der Boykott ist ein aktiver Protest gegen zwei Arten der Ausgrenzung, die trotz zahlreicher anderer Formen des Widerstands seit über 60 Jahren – und damit über fast drei Generationen hinweg – immer weiter fortbestehen.

In diesem Zeitraum hat sich der Staat Israel beständig allen Verpflichtungen entzogen, den Resolutionen der Vereinten Nationen oder den Urteilen internationaler Gerichtshöfe Folge zu leisten und dabei bis heute 246 Resolution des Sicherheitsrates ignoriert.

Als direkte Konsequenz davon sind sieben Millionen Palästinensern davon ausgeschlossen, auf dem Land zu leben, das ihnen gehört, so wie es international anerkannt ist und sie es wünschen. Und jetzt wird ihnen mit jeder weiteren Woche, die vergeht, auch noch das Recht auf eine irgendeine Zukunft als Nation entzogen.

In den Vereinigten Staaten sind die Pulitzer-Preisträger Alice Walker, Junot Diaz und Viet Thanh Nguyen, die Musiker Chuck D und Boots Rilex, die Journalisten Barbara und Ben Ehrenreich, Naomi Klein und Dave Zirin sowie 400 weitere Künstler, Musiker und Autoren dem Boykott beigetreten, während Lauryn Hill und Pharrell Williams ihre Auftritt in Israel abgesagt haben. Und dennoch weigert sich einer der berühmtesten und einflussreichsten Musiker in den USA, diesen Boykott anzuerkennen, während dies geschrieben wird, und das trotz seiner progressiven Haltung in vielen sozialen Fragen.

Natürlich hat jeder Mensch das Recht, so zu handeln, wie er oder sie es für richtig hält, – und auch die Verantwortung dafür zu tragen –zwei Punkte lassen Carlos Santanas Ablehnung des kulturellen Boykotts aber bemerkenswert erscheinen. Zunächst einmal war Santana zu Beginn seiner Karriere ein Held der Gegenkultur. Seite an Seite mit Bands wie Sly and the Family Stone stach Santanas ursprüngliche Band durch die vielfältigen ethnischen Hintergründe ihrer Mitglieder und ihre gleichermaßen vielschichtige Fusion unterschiedlicher musikalischer Traditionen hervor. In den späten 1960er bis weit in die 1970er Jahre stellten viele Musiker ihre politische Haltung über ihre Musik und durch ihre Handlungen klar. – Dies galt besondersfür Themen wie de Vietnam-Krieg, die Studentenproteste, die schwarze Bürgerrechtsbewegungen und die diversen freiheitlichen Belange. Musik und politisches Engagement waren vorwärts gewandt, auf Forschung und Synthese ausgerichtet, stellten Grenzen infrage und waren in vielen Fällen aktivistisch. Marvin Gayes Meisterwerk „What’s Going On“ war ein Appell an das Gewissen seiner Zuhörer und ein Aufruf zur Solidarität. Marvin Gaye sagte dazu: „1969 oder 1970 begann ich, meine gesamte Vorstellung darüber, wasich mit meiner Musik eigentlich sagen wollte, zu überdenken … Ich war sehr betroffen von den Briefen, die mir mein Bruder aus Vietnam schickte, und auch von der sozialen Lage hier bei uns. Ich erkannte, dass ich meine eigenen Fantasien hinter mir lassen musste, wenn ich Stücke schreiben wollte, die die Seele der Menschen erreichen. Ich wollte, dass sie einmal einen Blick darauf werfen, was in der Welt so passiert.“

Aktivismus ist Santana nicht fremd. Er ist der Begründer der Milagro-Stiftung, deren grundlegende Überzeugung darin liegt, dass „Kinder überall auf der Welt es verdienen, ein Leben zu leben, das ihnen den vollständigen Zugang zu einer ordentlichen gesundheitlichen Versorgung und Bildung gewährt und ihnen Möglichkeiten bietet, sich zu kreativen menschlichen Wesen zu entwickeln.“ So wie es aussieht, hätte er jetzt die Gelegenheit, ein machtvolles Wort über die Rechte palästinensischer Kinder über genau diese Dinge zu sprechen.

Doch während diejenigen, die Carlos Santana drängen, dem Boykott beizutreten, immer wieder auf die zahlreichen und ungeheuerlichen Umstände hinweisen, unter denen Israel palästinensischen Kindern die gesundheitliche Versorgung und die Bildung verweigert, scheint Santana selbst sich in diesem Fall als ein weiteres Beispiel für eine Person zu erweisen, die „progressiv ist, so lange es nicht um Palästina geht“. Offenbar verfügt er über ein ganz besonderes Verständnis dafür, welche Orte auf der Welt unter den Begriff “überall” fallen und welche Kinder tatsächlich “bedürftig” sind.

Auf der Startseite seiner Stiftung findet sich eine knappe Stellungnahme:

“Carlos Santana ist ein Weltbürger, und er spielt seine Musik und verbreitet seine Botschaft von Liebeund Licht & Frieden, wohin immer er geht. Carlos ist überzeugt, dass es auf der Welt keine Grenzen geben sollte, und lässt sich deshalb auch nicht davon ablenken [sic] oder sich entmutigen, an jedem Ortauf diesem Planeten zu spielen. Er und die Band freuen sich auf ihren Auftritt in diesem Sommer in Israel.”

Auf Salons Anfragen wegen einer weiteren Kommentierung reagierten Santanas Vertreter nicht.

Einmal mehr ist es, gelinde gesagt, enttäuschend, wie Santana sich auf seine Überzeugung zurückzieht, dass „die Welt keine Grenzen haben sollte“, während Israel faktisch eine der rechtswidrigsten und tödlichsten Grenzen der Welt errichtet hat und unterhält – das Freiluftgefängnis, bekannt als Gazastreifen zusammen mit der Westbank. Klar ist indes, was Santana wirklich meint, nämlich dass ihn, aus welchen Gründen auch immer, niemand einengen kann.

Und als ob es nicht genug wäre, dass Santana damit vorrangig sich selbst und sein Recht im Blick behält, seine Musik überall dort zu spielen, wo er es will, – selbst in einem Land, in dem eine beträchtliche Anzahl der Einwohner vom Besuch dieses Konzertes ausgeschlossen sein werden -, hat er jetzt auch noch ein Video veröffentlicht, in dem er seine Freude auf das Konzert in Israel zum Ausdruck bringt. Darin ist zu sehen, wie er von einem kurzen Skript abliest und seine Hoffnung äußert, sein Auftritt werde (irgendwie) dazu beitragen, „den Konflikt zu beenden“.

Dabei sollte festgehalten werden, dass die beiden Anti-Boykott-Gruppen StandWithUs und Creative Community for Peace für die Produktion dieses Video verantwortlich waren. Boycott from Within, eine Organisation israelischer Aktivisten, schickte Santana einen Brief. Damit wollten sie sicher stellen, dass er sich darüber bewusst ist, dass beide Gruppen von der israelischen Regierung dafür bezahlt werden, Israels Politik der Besatzung und Apartheid vorwärts zu bringen. Die Jerusalem Post hob hervor, dass dieses Projekt durch das Büro des israelischen Premierministers in Kooperation mit StandWithUs ins Leben gerufen wurde: „Diese Initiative, bei der sich Stand With Us eng mit der Abteilung für Nationale Information des Büros des Premierministers abstimmen wird, ist darauf ausgerichtet, ‘junge Leute darüber aufzuklären, wie soziale Medien für Bildungszwecke und für die Öffentlichkeitsdiplomatie genutzt werden können.’“ Insofern hat der Staat Israel die Plattform für Carlos Santana im Rahmen seiner Bestrebungen bereitgestellt, dem öffentlichen Ansehen des Staates unter jungen Leuten neuen Schwung zu verleihen.

Als Reaktionen darauf wurde der Santana-Stiftung eine Petition zu diesen Fragen übergeben. Vor den Veranstaltungsorten der Santana-Konzerte in Stuttgart (Deutschland), Rom (Italien) und Montreux (Schweiz) fanden Demonstrationen statt. Mit zahlreichen Initiativen wurde versucht, Santana direkt zu erreichen, und über die sozialen Medien wurde ein Video verbreitet, in dem er gebeten wird, nicht in Israel zu spielen. Es lässt sich bezweifeln, ob er darauf reagieren wird. Er ist reich und angesehen genug, um sich darüber keine Sorgen machen zu müssen. Was aber selbst im Namen der Künstlerfreiheit nicht so leicht von der Hand zuweisen ist, ist die Frage der Moral und Ethik einer Person, die mit einer einzigen großen Geste die Kinder auf der Welt unterstützen kann – mit Ausnahme palästinensischer Kinder – einer Person, die an keiner Grenze haltmacht, die aber unfähig ist, sich in die Kette der Solidarität mit denjenigen einzureihen, die sich dieses Privileg nicht leisten können und die durch ihre Gefangenschaft verheerende, oft tödliche Schäden erleiden, sowie einer Person, die die Propaganda-Werkzeuge eines unterdrückerischen Staates nutzt, um ihre Auftritte vor auserwählten Staatsbürgern zu rechtfertigen.

John Berger beschrieb einmal die besonderen Charakteristiken eines Boykottes wie folgt:

Ein Boykott folgt, wie Nelson Mandela bemerkte, keinem feststehenden Prinzip, sondern ist vielmehr eine Taktik, die von den Umständen abhängig ist. Eine Strategie, die es den Menschen ermöglicht, anders als ihre gewählten aber oft zaghaften Regierungen, einen gewissen Druck auf diejenigen zur Anwendung zu bringen, die ihre Macht in einer Art und Weise ausüben, die von den Boykotteuren als ungerecht oder unmoralisch betrachtet wird. (Im weißen Südafrika der Vergangenheit und im heutigen Israel hatte, oder hat sich, die Unmoral in eine Form von rassistischer Apartheid gekleidet).

Boykott ist kein Prinzip, nach dem sich leben ließe. Wenn es dazu werden würde, bestände die Gefahr, dass der Boykott selbst wieder diskriminierend und rassistisch wird. Niemals darf ein Boykott, in dem Sinne, wie wir ihn gebrauchen, gegen einen einzelnen Menschen, ein Volk oder eine Nation als solche gerichtet sein. Ein Boykott richtet sich gegen eine Politik und gegen die Institutionen, die diese Politik entweder aktiv oder strategisch unterstützen. Das Ziel eines Boykotts liegt nicht in der Ablehnung, sondern darin, eine Veränderung herbeizuführen.

Vielleicht sind Boykotte und alles, das seine Freiheit einschränkt, etwas, das Santana zutiefst widerstrebt. Es wird interessant sein zu sehen, ob er über die Rechte eines unterdrückten Volkes auch nur ein Wort der Unterstützung verliert, während er in Israel spielt, oder ob er stattdessen nur leere Phrasen von „Liebe, Licht und Frieden“ von sich gibt, während palästinensische Kinder leiden. Er täte gut daran, sich ein Beispiel an Marvin Gaye zu nehmen, seine “Fantasien” hinter sich zu lassen und „einen Blick darauf zu werfen, was in der Welt vor sich geht.“

David Palumbo-Liu ist der aktuelle Louise-Hewlett-Nixon-Professor der Universität Stanford. Man findet ihn auf Twitter unter @palumboliu.

Übersetzung: S. Isbanner

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