Joseph Massad – Palästina, BDS und das Überleben Israels
The Electronic Intifada, 16. Dezember 2014
Was ist mit den europäischen Parlamenten los? In den vergangenen anderthalb Monaten haben das englische Unterhaus, die Parlamente von Spanien, Frankreich, Portugal und Irland allesamt Israels ewiges „Recht“ anerkannt, ein rassistischer Staat zu sein, nämlich durch eine viel gepriesene Anerkennung eines angeblichen palästinensischen Staates, bestehend aus der Westbank und dem Gazastreifen, den Gebieten Palästinas, die Israel 1967 besetzt hat.
Diese Schritte folgten der Linie von Schwedens neuer Mitte-Links-Regierung, die kurz nach ihrer Amtsübernahme beschloss, den „Staat Palästina anzuerkennen“ als Teil der „Zwei-Staaten-Lösung“.
Da es keinen palästinensischen Staat anzuerkennen gibt – weder innerhalb der Grenzen von 1967 noch irgendeinen anderen, sind diese politischen Schachzüge dazu geplant, den Tod der Zwei-Staaten-Lösung rückgängig zu machen – eine Illusion, die Israels Überleben als rassistischer jüdischer Staat für Jahrzehnte garantiert hatte. Diese parlamentarischen Resolutionen zielen im Grunde darauf, ein „de facto-Arrangement“ zu erreichen, das Israels Zusammenbruch verhindert, und seine Ersetzung durch einen Staat, der allen seinen Bürgern gleiche Rechte gewährt und nicht auf kolonialistischen und rassistischen Privilegien beruht.
Anders als der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der glaubt, dass er die Welt zwingen kann, ein rassistisches Israel anzuerkennen, das die von Israel 1967 besetzten Gebiete de jure annektiert, bestehen die europäischen Parlamente darauf, dass sie Israels Überleben als rassistischen Staat nur garantieren wollen innerhalb Israels Grenzen von 1948 und auf welchen zusätzlichen Gebieten auch immer innerhalb der Gebiete von 1967, die die Palestinian Authority (PA) – die mit Israel kollaboriert – in der Form von „Landtausch“ bereit ist zuzugestehen.
Dänemarks Parlament und das Europäische Parlament selbst sind die letzten Körperschaften, die aufgefordert wurden zu erwägen, Israels Überleben in seiner gegenwärtigen Form nur in den Grenzen von 1948 zu garantieren. Sogar die neutrale Schweiz stimmte einer Bitte der PA zu, Gastgeber für ein Treffen der Unterzeichner der „Vierten Genfer Konvention“ zu sein, auf der nur die israelische Okkupation von 1967 diskutiert werden sollte. Wie zu erwarten, stehen die größten Siedlerkolonien der Welt – die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien – ebenso wie die jüdische Siedlerkolonie in Opposition zu diesem Treffen und werden nicht daran teilnehmen.
Diese Vorgänge entwickeln sich als internationale Unterstützung für die von Palästinensern initiierte Bewegung „Boykott, Deinvestment und Sanktionen“ (BDS), denn sie hat angefangen, sich immer mehr in Richtung auf den Mainstream in den USA und in Westeuropa zu entwickeln. Zu den akademischen Vereinigungen, die sich für eine Unterstützung von BDS einsetzen, gehören die Association for Asian American Studies, die Native American and Indigenous Studies Association, die American Studies Asoociation und die American Anthropological Association (die sich entschied, eine Anti-BDS-Resolution abzulehnen).
Eine Ausnahme ist MESA, die Middle East Studies Association, deren Mitglieder erst kürzlich dafür stimmten, sich das Recht zu bewilligen, BDS zu debattieren und in diesem Prozess den Zionisten unabsichtlich ein ganzes Jahr Zeit zu geben, Lobbyarbeit zu betreiben und sich dafür vorzubereiten, eine BDS-Resolution abzulehnen, über die die Mitglieder im nächsten Jahr eventuell abstimmen können.
Sogar das Columbia University Center for Palestine Studies, das sich im April 2011 hartnäckig geweigert hatte, Gastgeber und Sponsor für einen Vortrag mit anschließendem Buchsignieren von Omar Barghouti zu sein und stattdessen am 4. April 2013 einen Redner engagierte (in einer geschlossenen, nur für eingeladene zugelassenen Veranstaltung), der Barghouti angriff in einem Versuch, PACBI (Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel) zu delegitimieren, revidierte seine Haltung kürzlich und lud Barghouti in diesem Monat selbst zu einem Vortrag ein. Barghouti ist Mitbegründer von PACBI. Was bedeuten all diese Entwicklungen?
Israels liberale Rassisten sind entlarvt
Der Kontext dieser Schritte hängt mit dem jüngsten Verhalten der Regierung Netanyahu zusammen, deren Ungeduld Israels liberale rassistische Politiker, d.h. jene, die ein ruhigeres Vorgehen bevorzugen, um genau dieselben rassistischen politischen Ziele zu erreichen, in Verlegenheit bringt. Die Situation ist so unhaltbar geworden, dass leidenschaftliche amerikanische liberale Zionisten, angeführt von keinem geringeren als Michael Walzer, emeritierter Professor am Institute for Advanced Study in Princeton, sich gezwungen sahen zu handeln.
Walzer, berüchtigt dafür, alle Eroberungen Israels als „gerechte Kriege“ zu rechtfertigen, und eine Gruppe gleichgesinnter Personen, die sich selbst „Scholars for Israel and Palestine“ nennen, forderten kürzlich die US-Regierung auf, eine Einreisegenehmigung für rechtsgerichtete israelische Politiker zu verhängen, die die Annektierung dessen unterstützen, was von der Westbank noch übrig ist.
Während aufeinanderfolgende israelische Regierungen eine unnachgiebige Entschlossenheit gezeigt haben, Israels Recht zu stärken, ein rassistischer Staat zu sein, der über das ganze von Israel kontrollierte Palästina herrscht, haben sie das geschafft durch die List des „Friedensprozesses“, den aufrechtzuerhalten sie sich für die kommenden Jahrzehnte verpflichteten, jedoch ohne irgend eine Lösung.
Diese Strategie hat in den letzten 20 Jahren sehr gut funktioniert mit kaum einem Pieps von der Palästinensischen Behörde (PA), die ihre ganze Existenz diesem unendlichen „Prozess“ verdankt. Noch kürzlich hat die politische Führung der Hamas, besonders der Zweig in Katar, wo der Leiter der Gruppe, Khaled Mashal, seinen Sitz hat, ebenfalls nach dem besten Weg gesucht hat, sich diesem Prozess anzuschließen.
Doch Netanyahus fortdauernde Politik, alle Gebiete, die Israel kontrolliert, mit Schrecken für das palästinensische Volk zu überziehen, hat den „Friedensprozess“ als Farce entlarvt, der er immer war, ebenso wie Israels Anspruch, „demokratisch“ zu sein, als höchst betrügerisch; darum ist der internationale Konsens, den die israelischen Liberalen über Jahrzehnte aufgebaut haben, um Israels hässliche Realität vor der Welt abzuschirmen, geschwächt worden, wenn nicht sogar vollkommen vom Zusammenbruch bedroht.
Israels Liberale erkennen, dass das, was Netanyahu tut, ihr gesamtes Projekt bedroht, und überhaupt das Überleben Israels als rassistischer Staat. Es gehört in diesen Zusammenhang, dass die europäischen Parlamente sich beeilen, Israels Liberale zu retten, indem sie ihnen Israels Überleben in seiner rassistischen Gestalt garantieren dadurch, dass sie einen nicht existenten palästinensischen Staat „innerhalb der Grenzen von 1967“ anerkennen.
Es gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, dass die europäischen Regierungen um das letzte Jahr herum begonnen haben, von BDS zu reden als einer möglichen Waffe, die sie verwenden könnten, um der Netanyahu-Regierung zu drohen, falls sie mit ihrer Weigerung fortfährt, mit den Palästinensern zu „verhandeln“ (die europäische Drohung mit BDS ist begrenzt auf die Drohung, nur Produkte der israelischen kolonialistischen Siedlungen in den besetzten Gebieten zu boykottieren), das bedeutet, die Illusion eines nach wie vor weitergehenden „Friedensprozesses“ aufrechtzuerhalten. Darin besteht das Dilemma für diejenigen, die BDS unterstützen.
BDS: Ein Mittel oder ein Ziel an sich?
Die PACBI mit Sitz in Ramallah ist sich immer darüber klar gewesen, dass BDS ein Instrument ist, ein Mittel, das zum Erreichen strategischer Ziele benutzt werden soll – nämlich die Beendigung von Israels Besatzung palästinensischer Gebiete während und seit 1967, die Beendigung von Israels institutionalisiertem Rassismus innerhalb der Grenzen Israels von 1948 und die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihr Land und in ihre Häuser.
In den zurückliegenden Jahren ist BDS von einem Mittel zu einem Ziel an sich umgewandelt worden. Viele von denen, die solidarisch mit den Palästinensern sind, haben angefangen, ihre Positionen so zu artikulieren, dass sie BDS eher als Ziel denn als Mittel unterstützen.
Die jüngsten Voten von akademischen Organisationen sind im Augenblick so ein Fall. Während drei akademische Organisationen, die für BDS votierten, ihre Unterstützung für die Beendigung der Okkupation von 1967 erklärten, lehnten nur zwei, die „Native American and Indigenous Studies Association“ (NAISA) und die Association for Asian American Studies, ausdrücklich die rassistische Politik des Staates Israel gegen seine eigenen palästinensischen Bürger ab.
Nur die Resolution der NAISA stellte die rassistischen Gesetze und Strukturen Israels infrage. Die American Studies Association führte im Gegenteil nur die Besetzung der Territorien 1967 an, während die Modern Language Association Israel bloß dafür tadelte, dass sie palästinensischen Akademikern und Studenten ihre akademische Freiheit verweigert, ohne die Besatzung oder den israelischen Staatsrassismus zu verurteilen. Die Resolution der MESA erwähnt sogar überhaupt keines der Ziele von BDS.
Obwohl diese Resolutionen ein Schritt in die richtige Richtung sind, und in vielen Fällen das Resultat langer und erbitterter Kämpfe, erstritten von Mitgliedern, die sich sehr für alle Rechte der Palästinenser einsetzen, versagen sie hauptsächlich darin, Positionen zu artikulieren, die mit allen expliziten Zielen von BDS übereinstimmen. In der Tat erwähnte keine einzige dieser Organisationen das dritte Ziel von BDS, nämlich das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, das Israel den UN-Resolutionen und dem Völkerrecht zum Trotz weiterhin bestreitet, um eine jüdische Mehrheit im Lande zu sichern.
Europäische Politiker haben erkannt, dass BDS nun benutzt werden kann als ein Mittel, um Ziele zu erreichen, über die jene, die sie akzeptieren, entscheiden können. Das Monopol der Palästinenser zur Entscheidungsfindung durch PACBI und das Boycott National Committee sowie zur Bestimmung der Ziele von BDS ist nicht garantiert.
Unterschiedliche Gruppen, die ihre Solidarität mit den Palästinensern erklären, können PACBI vollkommen ablehnen und tun es auch, nämlich als nur eine von vielen internationalen Organisationen, die BDS unterstützen, indem sie argumentieren, dass jede Unterstützergruppe von BDS selbst bestimmen kann, welche Ziele sie für passend hält.
Kurz gesagt, die wachsende Unterstützung von BDS in den USA und Europa bedeutet nicht unbedingt eine wachsende Unterstützung für die Ziele, den israelischen Rassismus, Israels Besatzungspolitik und das Exil der palästinensischen Flüchtlinge zu beenden, sondern einfach nur Unterstützung für die Verwendung von BDS als Mittel, das zu erreichen, was die Gruppe, die es verwendet, als erstrebenswertes Ziel jeweils bestimmt.
Wie ich seit der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen 1993 geschrieben und erklärt habe, haben alle die „Lösungen“, die von westlichen und arabischen Regierungen, von israelischen und PA-Liberalen angeboten wurden, um den sogenannten „palästinensisch-israelischen Konflikt“ zu beenden, zur Voraussetzung, dass sie Israels Überleben als rassistischer jüdischer Staat gewährleisten sollen.
Alle „Lösungen“ die keine solche Garantie anbieten, werden a priori als nicht praktikabel, als nicht pragmatisch oder sogar als antisemitisch verworfen. Die jüngsten Versuche, BDS genau für dieses Ziel zu verwenden, stehen in einer Linie mit dieser Verpflichtung.
Das erklärt die plötzliche Herabstufung der Bedrohung von BDS als einer Angelegenheit, die undenkbar für europäische und amerikanische Regierungsvertreter, für liberale Akademiker und Aktivisten ist, weil sie als letztes Ziel nicht nur die Sicherung Israels als rassistischen Staat ablehnt, sondern auch darauf gerichtet ist, alle seine rassistischen Strukturen niederzureißen, hin zu einer Sache, die immer ungefährlicher wird und von den meisten akzeptiert werden kann, um es dafür zu nutzen, Israels Überleben zu sichern.
Palästinenser und ihre Unterstützer müssen in Bezug auf diese Unterstützung von BDS wachsam sein und erkennen, dass mit dem Erreichen des Mainstreams auch ernsthafte Risiken entstehen. Wenn sie nicht bejahen, dass Unterstützung für BDS Unterstützung für die bestimmten Ziele bedeutet, die PACBI anfänglich gesetzt hatte, dann wird diese jüngste und offensichtliche „Transformation“ in den Einstellungen, die in Wahrheit überhaupt keine Transformation ist, auf eine schiefe Ebene geraten, deren Endziel den Palästinensern leider nur allzu vertraut ist, um es nochmals zu erleben.
Wegen des fortgesetzten Fehlens einer unabhängigen, repräsentativen und vereinigten palästinensischen Befreiungsbewegung, die fähig wäre, eine kohärente Strategie zu formulieren und den Kampf für die Befreiung zu führen, wird BDS, im Gegensatz zu den erklärten Zielen von PACBI, weiterhin bestenfalls als „Drohung“ für Israel benutzt werden, seine Besatzung von 1967 zu beenden. Das ist nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver, um andere Formen von Israels Kontrolle über das historische Palästina und die Palästinenser aufrechtzuerhalten und seinen institutionalisierten und legalen Rassismus zu erhalten.
Statt die internationale Gemeinschaft aufzufordern, BDS ohne ausdrückliche Verpflichtung auf seine Ziele zu übernehmen, müssen die Palästinenser darauf bestehen, dass jene, die solidarisch mit ihnen sein wollen, BDS als Strategie und nicht als Ziel akzeptieren, um Israels Rassismus und Kolonialismus in allen seinen Formen zu beenden, innerhalb und außerhalb der Grenzen von 1948.
Sonst kann und wird BDS dazu benutzt werden, die jüdische Siedlerkolonie zu stärken sowie das israelische liberale Projekt, das sie unterstützt.
Joseph Massad ist Professor für gegenwärtige arabische Politik und Geistesgeschichte an der Columbia University. Sein letztes Buch hat den Titel „Islam in Liberalism“ (University of Chicago Press).
(Übersetzung Hans-Ulrich Szameit/ Martin Breidert)
Quelle: ei – Recognizing Palestine, BDS and the survival of Israel
Joseph Massad sprach am 10. Mai 2013 auf der 2. Palästina-Solidaritätskonferenz in Stuttgart zum Thema Zionismus, Antisemitismus und die Palästinafrage.
„Islam in Liberalism“ (University of Chicago Press).