Erklärungen

Bitte endlich Kritik an BDS!

Antwort auf den Tagesspiegel-Artikel von Sebastian Leber über BDS

Trotz verschiedener ernüchternder Erfahrungen mit unseriöser Berichterstattung (neben wenigen fairen Interviews/Berichten) in der Vergangenheit haben wir dem Journalisten vom Tagesspiegel bereitwillig geantwortet. Er brauchte uns auch nicht einfach zu glauben, konnte unsere Aussagen, wie die Kampagne funktioniert und wie nicht, jederzeit überprüfen. Daran war Sebastian Leber aber offenbar nicht gelegen. Ihm haben wir nun einen tieferen Einblick in die Funktionsweise einer Form von Journalismus zu verdanken, bei der die Recherche, einschließlich Gesprächen und dem Abgleich von Zitaten, nicht der Wahrheitsfindung dient. Man lässt sich Informationen, Argumente, Erläuterungen liefern, nur um dieses Material, bis auf wenige kurze Zitate der Befragten nicht zu berücksichtigen. Die Ein-Satz-Zitate werden stattdessen jeweils in einen Kontext gestellt, der die Aussage inhaltlich verkürzt, verzerrt, umdeutet. Die Recherche diente offensichtlich nicht dazu, die Leser*innen zu informieren oder ihnen die Grundlage für ein eigenes Urteil zu liefern: über eine in den öffentlichen Debatten der vergangenen Monate in Berlin bisher kaum diskutierte, eher reflexhaft abgewehrte zivilgesellschaftliche Bewegung: für gleiche Rechte in einem Land, Israel/Palästina, das auf allen denkbaren Ebenen mit Deutschland eng verbunden ist.

Bei einer BDS-Aktion anlässlich des Berlin-Konzerts von Nick Cave sammelte Herr Leber Eindrücke für seinen Artikel. Auf allen Stationen seiner Europa-Tournee wird Nick Cave, der bekannt dafür ist, sich für Menschenrechte einzusetzen und in dieser Hinsicht auch die Politik Israels öffentlich zu kritisieren, von vielen seiner Fans im Sinne von BDS aufgefordert, seine bevorstehenden Tel Aviv-Gigs nochmal zu überdenken. BDS-Begründung laut Herrn Leber: „Weil gar kein Künstler mehr nach Israel solle. Auch kein Wissenschaftler.“ Wer es wissen möchte (der auf BDS angesetzte Tagesspiegel-Reporter offenbar nicht), wie es sich tatsächlich verhält, möge diverse BDS-Seiten1 konsultieren.

Möglicher Einwand: Die lügen sicher. Zur Beruhigung: Auf diesen Websites werden Künstler*innen und Wissenschaftler*innen nie dazu aufgefordert, in Bausch und Bogen Israel zu meiden. Das kann mensch nachlesen. Vielmehr sind die Briefe an bestimmte Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus jeweils konkreten Anlässen zu finden. Sie werden informiert und aufgefordert, eine bestimmte Kooperation mit einer bestimmten israelischen Uni oder einen Auftritt in Israel zu überdenken, weil diese Kooperation oder dieser Auftritt Implikationen habe, die wiederum nicht einfach behauptet, sondern belegt werden. Natürlich kann sich jede/r Künstler*in/Wissenschaftler*in dazu verhalten, wie er/sie es für richtig hält. Zahlreiche und nicht die unbedeutendsten von ihnen, etwa Stephen Hawkins, scheinen die Argumente von BDS für valide zu halten2.

Im Titel ist von einem „Totalboykott gegen Israel“ die Rede – eine schlicht falsche Behauptung, die wir im Gespräch richtiggestellt hatten. Natürlich braucht uns ein Journalist nicht zu glauben, er soll es nicht einmal. Doch die Praxis und alle Aussagen der Kampagne und ihrer Vertreter*innen – von Palästina bis Schottland, von den USA bis Thailand, von Chile bis Kanada und so auch in Deutschland haben nichts mit einem „Totalboykott gegen Israel“ zu tun, wie Herr Leber, des Lesens und vermutlich auch der einen oder anderen Fremdsprache mächtig, prüfen könnte. Auf allen BDS-Websites dieser Welt kann er nur Aktionen und Aufrufe finden, in denen es gezielt um Institutionen und Unternehmen geht (häufig nicht-israelische), deren Beteiligung an Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen jeweils präzise nachgewiesen wird.

„Auch in Berlin“, heißt es weiter, „geben sich BDS-Aktivisten friedlich – und brüllen dann Holocaust-Überlebende nieder.“ Hier ist die suggestive Katze aus dem Sack: In Berlin wie überall tut BDS, als sei es friedlich, während es tatsächlich Menschen, ausgerechnet Holocaust-Überlebende, niederbrüllt. Tatsächlich haben israelische Aktivistinnen, deren Vorfahren den Holocaust, die Todeszüge, die Todesmärsche und die Konzentrationslager überlebt haben als vehemente Kritiker*innen ihrer Regierung vor ein paar Monaten eine israelische Ministerin, die in Berlin auftrat, lautstark mit ihrer Kritik konfrontiert3.

Das Foto zum Artikel stammt von einer BDS-Aktion gegen (die US-Firma) HP, die nicht nur Drucker fürs Büro, sondern auch Sicherheitstechnologie für Checkpoints, die israelische Mauer und Gefängnisse in Palästina und anderswo liefert, wo Menschen ihrer Bewegungsfreiheit beraubt, überwacht und ohne ordentliches Verfahren eingesperrt werden. Dazu der Titel des Artikels: „Des Ungeistes Kinder“. So werden die Leser*innen hinreichend eingestimmt: Es ist schon klar, um welchen deutschen Ungeist es geht: „Kauft nicht beim Juden!“ Spielen Jüdinnen oder Juden bei HP eine Rolle? Diese überflüssige Frage hat sich BDS selbstverständlich nie gestellt.

Die Buchstaben „BDS“ stehen, laut Herrn Leber – und das hat er zu unserer großen Freude und Erleichterung richtig gelesen und widergegeben, „für ‚Boykott, Desinvestition und Sanktionen‘“ – nur, um es gleich wieder zu verpatzen: „Mittel, die es gegen Israel einzusetzen gelte, um das Land zu massiven Zugeständnissen gegenüber den Palästinensern zu zwingen.“

Schwer zu sagen, wie es noch deutlicher und eindeutiger klarzumachen wäre als in allen Verlautbarungen, Websites, Aktivitäten von BDS, dass es der Bewegung nicht um „Zugeständnisse“ geht. Vielmehr setzt sich diese 2005 von einem breiten Bündnis der palästinensischen Zivilgesellschaft initiierte Kampagne für die Umsetzung allgemein anerkannter Rechte ein: ein Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung, gleiche Rechte für die Bürger*innen Israels (was, nebenbei, impliziert, dass BDS nicht die „Vernichtung Israels“ anstrebt) und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge4. Dieses anzuerkennen, war Israel seitens der UN seinerzeit aufgefordert: als eine der Voraussetzungen für die international anerkannte Staatsgründung. Wie die Umsetzung dieses Rechts unter den heutigen Bedingungen aussehen könnte, wäre eine Frage von Verhandlungen – auf Augenhöhe.

Vielleicht ist es Herrn Leber noch nicht aufgegangen, aber die Umsetzung von Rechten ist etwas anderes als Zugeständnisse oder „massive“ Zugeständnisse – außer man meint mit „Rechten“ etwas, was man augenzwinkernd so nennt, während man tatsächlich befriedende Zugeständnisse an die Rechtlosen meint, die sich gefälligst mit den Krumen vom Tisch des Herren zufrieden geben und auf ihre Rechte verzichten sollen.

Wir von BDS Berlin wünschen uns endlich einmal Kritik, die diesen Namen verdient.

(Um nur einen kleinen Teil des Gewebes aus Unsachlichkeiten, Widersprüchen und false facts auseinanderzunehmen, aus denen der Tagesspiegel-Artikel zusammengesetzt ist, sind bereits rund 1000 Worte geschrieben. Daher brechen wir hier erst mal ab, denn der gesamte Artikel besteht aus nichts anderem als Vorurteilen, die offenbar unbesehen übernommen wurden.)

Berlin, 29. November 2017

Fußnoten

1 https://bdsmovement.net/ , https://bdsmovement.net/pacbi, http://bds-kampagne.de/ u.a.
2 On Hawking’s Decision to Heed the Palestinian call to Boycott Israel
3 Speaking up in times of apartheid, in Berlin
4 Palestinian Civil Society Call for BDS

Nick Cave, please don’t play on the bad seeds of Apartheid!