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Sami Hermez: Antworten an die Kritiker der Boykottbewegung

Sami Hermez, The Electronic Intifada, 1. Oktober 2009

In den letzten drei Jahren hat die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) gegen Israel an Fahrt gewonnen. Weltweit folgen Menschen diesem Aufruf; von Aktivist_innen, die Protestaktionen in Supermärkten Frankreich und Großbritannien gegen den Verkauf von israelischen Produkten aus den Siedlungen organisieren, über Filmemacher_innen, die ihre Filme von Filmfestivals zurückziehen bis hin zu prominenten Israel_innen, die sich öffentlich für die BDS-Bewegung einsetzen.

Erst vor kurzem hat der viele Milliarden schwere Norwegische Pensionsfonds seine Investitionen aus dem israelischen Rüstungskonzern Elbit zurückgezogen. Andere Unternehmen wie Veolia, ein französisches Konglomerat, das in den Bau und das Management der Stadtbahn in Jerusalem involviert ist, mussten wegen der schlechten Publicity durch die Boykottbewegung Rückschläge erleiden.

Die Liste der erfolgreichen BDS-Aktionen ist mittlerweile zu lang geworden, um sie hier aufzuführen. Doch gibt es immer noch viele Menschen, die nicht an diese Bewegung glauben. Sie haben Vorbehalte, die im Wesentlichen auf zwei Kritikpunkten beruhen, welche selten und dann auch nur oberflächlich in Angriff genommen werden. Erstens ist da die kritische Frage, warum es eine Boykottbewegung gegen Israel gibt und nicht gegen Länder wie zum Beispiel China, Sudan oder die USA. Dieser Forderung wird auch oft die Meinung angehängt, dass dahinter ein tief sitzender Antisemitismus stecke. Zweitens gibt es das Argument, dass Boykott gegen Dialog sei, oft verbunden mit Anschuldigungen, dass Boykott die Zensur vorantreibe und dass er eine Form kollektiver Bestrafung sei.

Boykott anderer Länder

Kürzlich gaben Naomi Klein und Neve Gordon zwei offene Erklärungen zum Boykott ab. Beide nahmen den ersten Kritikpunkt vorweg, gingen jedoch nicht weit genug in ihren Erklärungen, warum der Boykott gegen Israel wichtig ist und warum wir nicht andere Länder boykottieren. Gordon stellte die Frage nur, um sie anschließend fast vollständig zu ignorieren, während Klein zwei Erklärungen vorbrachte, die miteinander kombiniert den Anfang einer schlüssigen Antwort bilden. In ihrem Artikel, der am 8. Januar 2009 in The Nation veröffentlicht wurde als Antwort auf die Frage, warum wir nicht andere Länder des Westens boykottieren, die ebenfalls Menschenrechte verletzen, schrieb Klein: „Boykott ist kein Dogma, sondern eine Taktik. Der Grund, warum die BDS-Strategie gegen Israel versucht werden sollte, ist ein praktischer: in einem Land, das so klein und vom Handel abhängig ist, könnte sie funktionieren.” Dies ist zwar richtig, beantwortet aber die kritischen Einwände noch nicht vollständig.

Es gibt noch mehrere andere Gründe dafür, warum wir nicht einige der anderen oben erwähnten Länder boykottieren. Bei weitem der wichtigste, ausgeführt von Klein in einem Interview mit Cecille Surasky für Alternet am 1. September 2009, ist der, dass weltweit Menschen nicht boykottieren, sondern einem Aufruf zum Boykott nachkommen, der aus der palästinensischen Zivilgesellschaft kommt. Klein ist nicht die erste, die das sagt; Veteranen der südafrikanischen Kampagne gegen das Apartheidsystem, die einen erfolgreichen Boykott durchführten, haben ebenfalls die Wichtigkeit betont, sich mit der indigenen Bevölkerung solidarisch zu zeigen. Boykott ist ein Schritt, um der Stimme einer unterdrückten Gruppe Beachtung zu schenken und sich ihr anzuschließen. Es gibt derzeit keine Bewegungen, die aus Tibet heraus im Fall der chinesischen Unterdrückung, oder aus dem Irak heraus im Fall der US-amerikanischen Besatzung zu einem Boykott aufrufen und an die internationale Gemeinschaft appellieren, sich diesem Aufruf anzuschließen. Dies ist wichtig! Die BDS-Bewegung kommt aus der Mitte der palästinensischen Gesellschaft und dieser Umstand macht sie so stark und wirkungsvoll. Wenn es Aufrufe gäbe für einen Boykott an Orten wie beispielsweise den USA, China oder Nordkorea von denen, die von der Regierung unterdrückt werden, dann wäre es erstrebenswert, solchen Aufrufen Gehör zu schenken.

Der Kommentar von Naomi Klein, dass BDS nicht dogmatisch, sondern taktisch zu verstehen sei, ist wesentlich. Die Bewegung beansprucht nicht, dass BDS erfolgreich im Kampf gegen jegliche Unterdrückung wo auch immer eingesetzt werden kann, jedoch in bestimmten Fällen von Apartheid und kolonialer Unterdrückung ist dieses Werkzeug äußerst effektiv. Der Fall Israel erweist sich hierbei als herausragend, denn es erhält einen nahezu surrealen Betrag an Unterstützung und ausländische Investitionen aus der ganzen Welt, vor allem aus den USA, wo es einen Sonderstatus genießt. Dies macht die tägliche Politik des israelischen Staates und seiner Institutionen weitaus verantwortlicher gegenüber der internationalen Gemeinschaft als etwa ein Ort wie der Sudan, der wegen der Gewalt in Darfur regelmäßig von Boykottkritikern als Beispiel vorgebracht wird.

Im Fall eines Wirtschaftsboykotts und Desinvestition bedeutet dies, dass die internationale Gemeinschaft lediglich ihre Geschenke und ihre Unterstützung  zurückhält, und (Israel) nicht länger den besonderen Status zugesteht – wahrlich keine besondere Strafe. Es ist genau diese Unterstützung auf hohem Niveau, die Israel so empfindlich macht gegenüber BDS. Gegen andere Länder hingegen, die, wenn es um Boykott geht, oft genannt werden „gibt es [bereits] eindeutige staatliche Sanktionen.“ so Klein.

In demselben Artikel vom September, in dem neben Klein auch die israelische Publizistin Yael Lerer interviewt wurde, bestätigte sie diese Position mit den Worten: „Diese Länder haben auch nicht solche Filmfestivals und Madonna gibt keine Konzerte in Nordkorea. Das Problem ist, dass die internationale Gemeinschaft Israel so behandelt, als sei es ein ganz normaler, europäischer, westlicher Staat. Und darauf basiert der Boykottaufruf: diese besondere Beziehung, die israelische Universitäten zu europäischen Universitäten und mit Universitäten in den USA haben, welche die Universitäten in Zimbabwe nicht haben. Ich glaube nicht, dass Israel seine Besatzung auch nur einen einzigen Tag länger aufrechterhalten könnte ohne die Unterstützung durch die USA und die EU.” Kritiker der BDS-Bewegung müssen den taktischen Aspekt der Bewegung sehen. Wir können nicht alle Länder auf der Welt boykottieren, doch das heißt nicht, dass BDS gegen Israel nicht als Hilfsmittel eingesetzt werden kann, um eine Neustrukturierung der Beziehungen zwischen Palästinensern und Israelis zu erzwingen. Dies führt uns zum nächsten Kritikpunkt, der den Boykott als Anti-Dialog betrifft.

Boykott ist Dialog

Seit der Unterzeichnung der Abkommen von Oslo im Jahre 1994 haben viele den Weg des Dialogs beschritten, auch ich selbst mehrere Jahre lang. Ich habe jedoch erkannt, dass er eine Strategie der Behinderung war, während die israelische Regierung fortfuhr, Tatsachen zu schaffen. Wir haben gesehen, wie Dialog zu einem Schlagwort für Verbrecher wurde, um ihre blutverschmierten Hände reinzuwaschen und als friedliebend zu erscheinen, während sie mit ihren Strategien der Unterdrückung fortfuhren. Der israelische Präsident Shimon Peres ist ein Meister solcher Taktiken. An den Universitäten in den USA, an denen ich studierte, erlebte ich, dass Dialog eine Methode ist, Konfrontationen zu neutralisieren und schmutzige Konflikte keimfrei zu machen. Jedoch begünstigt die Vermeidung von Konflikten den Status Quo, und der Status Quo hat bisher, bis zu BDS, die Besatzung begünstigt.

Zwar ist die Boykottbewegung gegen einen solchen Dialog, jedoch nicht gegen Dialog in einem absoluten Sinn. Tatsächlich basiert die BDS-Bewegung in ihrem Kern auf Dialog und auf Wiederaneignung der Bedeutung von Dialog. Wieder an dem Platz, der ihm gebührt, bedeutet Dialog eine Kommunikation zwischen gleichberechtigten Partnern und nicht eine, in der ein Besatzer den unter Besatzung Stehenden zwingen kann, seinen Forderungen zu entsprechen und ihm die Bedingungen diktieren kann. BDS soll den Dialog fördern dadurch, dass diejenigen ausfindig gemacht werden, die sich für einen wirklichen und konsequenten Kampf gegen den Zionismus einsetzen. Als zweckmäßigste Mittel werden dafür nicht ökonomische, sondern kulturelle und akademische Formen des Boykotts angesehen, bei welchem Künstler, Musiker, Filmschaffende, Akademiker und andere Kulturschaffende zusammenkommen, sich unterhalten und vernetzen angesichts unterdrückerischer Institutionen, die das eigentliche Ziel dieses Boykotts sind. Wo ökonomischer Boykott ökonomischen Druck erzeugt, fördert kultureller Boykott Dialog und Kommunikation genau aus dem Grund, weil es jene beschämt und meidet, die direkt mit der israelischen Regierung und ihren Institutionen zusammenarbeiten.

Die Kraft all dieser Formen von BDS liegt in ihrer Anerkennung, dass wahre Gerechtigkeit erst erreicht werden kann, wenn Israelis und Palästinenser zusammen für ein gemeinsames Ziel arbeiten, wenn sie erkennen, dass ihr Kampf ein gemeinsamer ist, und wenn Israelis verstehen, dass sie wie die Palästinenser Opfer bringen müssen, wenn sie wirklich Frieden wollen. Die Kraft von BDS besteht darin, dass es eine Alternative bietet zu den nationalen Kämpfen von Hamas und Fatah und dass Israelis dazu aufgefordert sind, sich den Palästinensern in ihrem Kampf anzuschließen, sich über die Bequemlichkeitszone des bloßen Predigens von Frieden hinaus in den Bereich der Aktion zu begeben und es nicht zuzulassen, dass alles einfach so weiter geht wie bisher. In der Tat schafft BDS Bedingungen dafür, dass eine neue Bewegung entstehen kann als eine Antwort auf die großen palästinensischen politischen Parteien, die dem Recht eines Volkes auf Widerstand Hohn sprechen, ungeachtet ihrer Errungenschaften in der Vergangenheit. BDS ermöglicht einen Diskurs, welcher über die „Beendigung der Besatzung” hinausgehend der Forderung des Rückkehrrechts und gleicher Rechte für die Palästinenser in Israel den höchsten Stellenwert einräumt.

Wenn Israelis und Palästinenser zusammen eine Bewegung aufbauen können, zusammen kämpfen können, dann wird diese Bewegung die Welt verkörpern, die sie erschaffen wollen, eine gemeinsame Welt. Somit ist BDS nicht eine Taktik für eine nationale Bewegung und mit zunehmender Stärke wird sich erweisen, dass sie Gegner aus beiden nationalistischen Lagern hat. Ihre Kraft als eine Taktik liegt in ihrer Fähigkeit, eine Bewegung zu fördern, die den nationalistischen Diskurs infrage stellt. In einer Welt, die von widerstreitenden Nationalismen beherrscht wird, kann BDS die Bedingungen für eine Bewegung schaffen, die begreift, dass nationale Selbstbestimmung weiterhin ein zentrales Element bleibt, jedoch nicht auf traditionelle Vorstellungen eines Nationalismus beschränkt werden sollte, welcher auf Überlegenheit und ethnischer Ausgrenzung oder auf der Macht gegenwärtiger politischer Parteien beruht. Somit ist BDS nicht Anti-Dialog, sondern ganz im Gegenteil ein Aufruf an Israelis, Gefährten im Kampf zu sein, ein Aufruf an sie, einen Schritt vorwärts zu machen, um sich kollektiv eine alternative Beziehung im Land Israel-Palästina auszumalen.

Es ist an der Zeit, aus unseren Komfortzonen herauszukommen, zu konfrontieren, und uns nicht mit dem Gerede über Toleranz und Dialog zufrieden zu geben auf Kosten des Dialogs. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass Menschen bereits die Menschlichkeit des anderen anerkennen, dass jedoch die Politik dazwischentritt und dafür sorgt, dass „wir” „ihnen” diese Menschlichkeit nicht zugestehen. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass es nicht die Israelis sind, die von BDS ins Visier genommen werden, sondern die israelische Regierung und israelische Institutionen, die an der Besatzung der Palästinenser mitarbeiten, sie entwürdigen und dämonisieren. Und schließlich ist es an der Zeit, einzusehen, dass BDS

eine gewaltlose Strategie ist, die gewinnt, genau deswegen, weil sie dahingehend wirkt, langsam Einstellungen zu verändern, Brücken zu bauen für eine gemeinsame Vision von Gerechtigkeit und Gleichheit und weil sie ein echtes Gefühl von Verlust und daher echten Druck auf israelische Regierungen und Institutionen erzeugt, was über Lippenbekenntnisse zum „Friedensprozess” hinausgeht.

Sami Hermez ist Doktorand der Anthropologie an der Princeton Universität und arbeitet zu Fragen der Gewalt und Gewaltfreiheit.

 Quelle: Answering critics of the boycott movement

www.bds-kampagne.de / Übersetzung: Angelica Seyfrid